Vergessen

Nicht immer ist der weise, dem die Weisheit nachgesagt wird

Dunkelheit hatte die Herrschaft übernommen. Seit Jahren hatte kein einziger Lichtstrahl seinen Weg  in die Tiefen gefunden. Alles was sich dort befand, war längst dem Vergessen übergeben worden. Selbst die Hoffnung, sonst doch immer allgegenwärtig, hatte sich den Wellen der Jahre gebeugt und wurde weggespült. 

Jedweder Laut, der sich versuchte einen Weg zu bahnen,  wurde schon im Keime vom schwarzen Tuch der Zeit  erstickt. Dornröschenschlaf ohne die Aussicht auf einen Kuss.

 

Mauern, einst stolze Zeugen ausgefeilter Architektur und künstlerischer Freiheit, waren zerfallen und ihre Steine fristeten ein klägliches Dasein auf dem Grund. Jedwede Farbe, alles Leben hatte sich der immerwährenden Nacht unterworfen.  Es war kalt, Wärme hatte man schon lange nicht mehr gespürt. Geschichten waren verstummt und rankten sich fest um die wenigen, noch verbliebenen Artefakte einer alten Zeit.  Einer glücklichen, unbeschwerten Zeit. In der ein Schatz noch ein Schatz war und gehütet wurde. Eine Zeit, wo man das Herz noch auf dem rechten Fleck trug und von Bösartigkeiten noch nichts wusste.

Die, die noch von ihr wissen konnten, lebten längst in einer anderen Welt. Lauter, moderner, fernab von allen Erinnerungen.  Dort kamen die Tage und gingen wieder, sich gleichsam wiederholend, angefüllt mit Krieg und Zerstörung, Liebe und Hass, Neid und Gier, während sich in der Tiefe die Nacht zur Unendlichkeit dehnte.

Der Buddha öffnete verschreckt ein Auge, als er ein dumpfes Geräusch vernahm. Ein Lichtstrahl traf seine Iris, die sich sofort zusammenzog. Vorsichtig blinzelte er nun auch mit dem zweiten Auge. Er brauchte eine Weile, um sich an das gleißende Licht zu gewöhnen. Langsam erinnerte er sich. Sonne, ja, das war die Sonne. Sonne bedeutete Leben. Er löste seine ineinander verschlungenen Hände und tastete mit der rechten Hand behutsam auf etwas Goldenes zu. Zart streichelten seine Finger das glänzende Papier. Es knisterte leise unter seinen Berührungen. Der Buddha lächelte. Es war tatsächlich noch da. Nach all den Jahren. Seine Nase hob sich in die Luft. Und wie es plötzlich duftete, so schön nach Marzipan. Das musste an der Wärme liegen, die sich nun wie eine Wolldecke über das Osterei gelegt hatte.

Hoffnung kroch aus der Tiefe und nährte das Herz des Buddhas. Nun vollends erwacht, schaute er sich um. Die Farben waren zurückgekehrt und zwischen den verfallenen Gebäuden leuchteten rote und blaue Steine.  Ergriffen von all diesen plötzlichen Veränderungen stupste er das Osterei an.

"Sieh nur, sieh", stammelte er voller Freude. "Das Licht ist zurück und die Wärme. Das Leben hat uns nicht vergessen. Du wirst sehen, die alten Zeiten werden wieder auferstehen."

Das Osterei lächelte nur traurig. "Der Weise von uns, solltest eigentlich du sein", dachte es. Ein Seufzer tropfte aus der angegrauten Schokoladenoberfläche und für einen Moment sah es aus, als ob das Marzipanei weinen würde. Doch um die Freude des Buddahs nicht zu trüben, nickte es zustimmend in seine Richtung.

 

"Du meine Güte", rief Lisa aus, als sie die Kiste von Tom geöffnet hatte. "Was schleppst du denn hier an!" Tadelnd schaute sie ihren Verlobten an.  

Tom wirkte etwas verlegen und grinste schief. "Nun ja, in dieser Kiste steckt meine Kindheit. Hier, schau es dir an. Atlantis, gebaut aus Legosteinen. Da habe ich Wochen dran gesessen. Ich hatte Scharlach und durfte den ganzen Sommer das Haus nicht verlassen. Und das hier", er hob den Buddah in die Höhe, "den hat mir mein Opa geschenkt, kurz bevor er starb. Er sollte mich immer an die kleinen Weisheiten des Lebens erinnern."

"Und warum hast du ein Marzipanosterei aufbewahrt?"  Lisa nahm es mit spitzen Fingern aus der Truhe. Es roch unangnehm und sie hielt sich die Nase zu.

"Du kannst dich wirklich nicht erinnern?" Toms Stimme klang enttäuscht.

Lisa kramte im letzten Winkel ihrer Gedächtniskammern, aber es wollte ihr nicht in den Sinn kommen.

"Du hast es mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt, der in dem Jahr auf Ostersonntag fiel."

Lisa konnte sich nicht erinnern, ließ sich aber nichts anmerken und lächelte Tom nur milde an. "Wie süß von dir! Aber nun lass uns die Kiste entsorgen. In der neuen Wohnung haben wir keinen Platz dafür." Sie ließ das Osterei in die Kiste fallen, hart schlug es neben dem Buddha auf. Zwei Steine brachen aus einem Mauerrest. Tom schloss wehmütig den Deckel .


Und Dunkelheit übernahm  wieder die Herrschaft von Atlantis.



Text: Perdita Klimeck

Bildmaterial: oldskoolman

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Kommentare: 1
  • #1

    Geli (Montag, 18 Mai 2015 11:14)

    Atlantis war sofort mein Gedanke beim Lesen der ersten Sätze - sie treffen auf viele Bereiche zu, die sonnenlose Stille, die uns erstickt uns die Luft nimmt....

    Dann das Ende, nicht nur das Osterei schlug hart auf, auch mich hat Lisas Härte getroffen. Vielleicht können die zwei Steine ein wenig Helligkeit und Wärme bringen und damit das Eis zum Tauen bringen. LG Geli