Um vier Uhr morgens gab er auf. Sein Kopf dröhnte, seine rechte Hand schmerzte und so langsam glaubte er, den Verstand zu verlieren. Er griff nach der Flasche mit dem Scotch und hielt sie gegen das Licht der Schreibtischlampe. Sie war nur noch knapp einen Zentimeter mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt. "Das wird es sein", murmelte er, "du hast zu viel getrunken." Was ihn nicht davon abhielt die Flasche an den Hals zu setzen. Danach wankte er zur Couch, ließ sich stöhnend darauf fallen und schlief augenblicklich ein.

 

Es war bereits später Nachmittag als Julius Reiter erwachte. Nach zwei Kopfschmerztabletten, einer großen Tasse Kaffee und einer Dusche näherte er sich, einigermaßen erfrischt, vorsichtig seinem Schreibtisch. Mit zitternden Händen zog er das Blatt aus der Schreibmaschine und legte es auf den Stapel, der sich bereits neben der Maschine befand. Erst dann warf er einen Blick darauf. Julius konnte es nicht fassen. Claudia! Immer wieder Claudia. Niemals hätte er die Protagonistin seines neuen Romans so genannt. Allein die Vorstellung ist absurd. Niemand würde zu einem Roman greifen, dessen romantische Heldin Claudia heißt. Zumal der Name dieser besagten Schönheit auch der Titel des Buches werden sollte. So wie es sein Verleger von ihm gefordert hat. So wie es vertraglich geregelt war. Ebenso wie der Abgabetermin. Der mittlerweile in bedrohliche Nähe gerückt war.

Wo war nur der Scotch? Nervös durchforstete Julius seine Vorräte in der Küche. Er musste unbedingt etwas trinken, damit das Zittern in seinen Händen aufhört. Nach ein paar Minuten wurde er fündig. Er goss sich ein randvolles Glas ein und trank es in kleinen Schlucken. Fast augenblicklich kehrten seine Lebensgeister zurück. Julius war ein Trinker. Er wusste es und sein Verleger auch. Und doch hatte man ihm noch eine Chance gegeben. "Eine letzte, Julius!" Die Worte seines Verlegers hatte er noch genau im Ohr. "Hör auf zu trinken und schreibe. Das ist das einzige was du kannst!"

Julius lachte schrill, als er sich daran erinnerte. Schreiben, ja, das konnte er. Damals. Vor dem Scotch und den wilden Nächten in den Bars und Clubs, als man ihn noch auf der Straße erkannte. Ihn, den gefeierten Bestsellerautor. Irgendwann floppten seine Romane. Wurden seicht, völlig ohne Tiefgang. Er schrieb immer weniger, bis er die Schreibmaschine gar nicht mehr anrührte. Der Scotch wurde billiger, die Bars übler. Und ehe er sich versah, war Julius pleite. Völlig am Ende bettelte er seinen Verleger an. Sprach von einer großartigen Romanidee und gaukelte ihm alte Frische vor. Sogar einen kleinen Vorschuss konnte er aus ihm herauskitzeln. Der allerdings mittlerweile in Scotch aufgegangen war.

Sechs Monate hatte man ihm Zeit gegeben. Doch obwohl Julius Reiter sich jeden Tag bemüht hatte, war es ihm nicht gelungen auch nur eine vernünftige Zeile aufs Papier zu bringen. Julius versank im Selbstmitleid. Bis er vor zwei Wochen einen Anruf erhielt. Sein alter Freund und Schriftstellerkollege Simon Jaster bat ihn um ein Treffen. Simon Jasters Romane waren ebenso wie die von Julius auf sämtlichen Bestsellerlisten zu finden gewesen, nur mit dem Unterschied, dass sein Name auch heute noch dort steht. "Julius, ich habe einen wahrlich besonderen Roman geschrieben. Und ich brauche deine geschätzte Meinung, bevor ich ihn an meinen Verleger schicke."

Als Julius einen Tag später im Haus von Simon Jaster das fertige Manuskript in den Händen hielt, wusste er nach den ersten Seiten schon, dass er mit "Claudia" ein Meisterwerk vor sich hatte. Niemals würde er so etwas schreiben können. Die eigene Unzulänglichkeit vor Augen, fasste er in Sekunden einen Plan. Niemand wusste von dem Roman und niemand wusste, dass Julius in Simons Haus war, welches fernab an einem ruhigen See lag. Er überredete Simon zu einer Bootsfahrt, stieß ihn über Bord und drückte seinen Kopf mit aller Kraft solange unter Wasser, bis Simons lebloser Körper von den Wellen davon getragen wurde. Er selbst war ein guter Schwimmer und so gelang es ihm problemlos das Ufer zu erreichen. Zurück in Simons Haus trocknete er seine Kleidung, verwischte alle Spuren, nahm das Manuskript an sich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich keine weitere Kopie im Haus befand und warf noch einen letzten Blick auf das einsame Boot auf dem See, bevor er verschwand.  

Für ein paar Tage beschäftigten sich die Presse und die Verlagswelt mit dem tragischen Unfalltod des Bestsellerautoren Simon Jaster, dann standen weitaus interessantere Weltmeldungen wieder im Vordergrund.

Julius Reiter hatte sich indessen daran gemacht das Manuskript ab – und ein wenig umzuschreiben.

Das war nötig, denn so ganz sicher konnte er nicht sein, dass Simon Jaster nicht doch irgendjemandem von seinem neuen Roman erzählt hatte. So änderte er zunächst den Namen der Protagonistin in einen wie er fand, viel wohlklingenderen Namen um. Aus Claudia wurde Marlen. Sollte es zumindest werden. Denn egal wie viele Seiten er schrieb, sobald er eine fertige Seite aus der Maschine nahm, verspürte er eine unter die Haut gehende Kälte im Raum, das Blatt in seiner Hand zitterte wie Espenlaub, die Schrift veränderte sich und aus Marlen wurde wieder Claudia.

 

Julius fegte den Stapel Papier vom Schreibtisch. Ein weiteres Glas Scotch fand den Weg in seine Kehle. Wütend spannte er einen neuen Bogen Papier in die Maschine. "Was willst du von mir?", schrie er, während seine Finger auf die Tastatur einhämmerten. Er glaubte nicht an Geister und Heimsuchung. Aber jetzt … irgendwie … Marlen, Marlen, dröhnte es in seinem Kopf. Er spürte die Kälte, fühlte wie sie in seine Poren drang. Ein heiseres Flüstern erfüllte den Raum und schwoll zu einem ohrenbetäubenden Lärm an. "Claudia, Claudia, Claudia", vermeinte er Simons Stimme zu hören.

Plötzlich wurde es seltsam still. Verwirrt und völlig erschöpft hob Julius den Kopf. Vor ihm stand eine junge Frau. Sie lächelte und legte ihre zarte Hand auf Julius Arm. "Marlen", stammelte Julius, denn die Frau glich der Protagonistin aus dem Manuskript bis aufs Haar. "Nein Julius", antwortete sie milde lächelnd. "Ich heiße Claudia und es ist Zeit, dass die Welt von mir erfährt!"

 

"Claudia" erobert die Bestsellerliste

 

Der letzte Roman des Schriftstellers Simon Jaster, dessen Manuskript auf dem Schreibtisch seines Mörders Julius Reiter gefunden wurde, erfreut die Herzen tausender Leser. Julius Reiter wurde vor vier Monaten von seinem Verleger, nachdem er einen Abgabetermin nicht eingehalten hatte, erhängt in seiner Wohnung aufgefunden. In seiner Schreibmaschine steckte noch ein beschriebenes Blatt Papier. Doch handelte es sich mitnichten um einen angefangenen Roman von Julius Reiter. Vielmehr entpuppte es sich als Mordgeständnis. Somit konnte der tragische Tod von Simon Jaster restlos aufgeklärt werden. Der Verleger von Julius Reiter distanzierte sich daraufhin von seinem ehemaligen Bestsellerautoren und kündigte an, alle vorhandenen Restbestände seiner Werke einstampfen zu lassen. Das Manuskript von Simon Jaster übergab er dem Verlagshaus Spicher, welches die Werke Simon Jasters Zeit seines Lebens publiziert hat.

"Claudia" ist ein herausragendes Beispiel zeitgenössischer Literatur und steht verdient auf Platz 1 sämtlicher Bestsellerlisten.

 

Text: Perdita Klimeck

Bildmaterial: oldskoolman

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