Aufstand der Geschenke

Juniormaus träumte. Und wie es in Träumen nun mal ist, trippelte er mit seinen kleinen Mäusefüßen mitten durch eine kunterbunte Welt. Aus jeder Ecke leuchteten ihm goldene Käsestücke entgegen, die himmlisch dufteten. Dazwischen lagerten kleine Berge aus Schinkenwürfeln. Und mitten in der ganzen Pracht stand ein geschmückter Weihnachtsbaum. Juniormaus war ganz geblendet von den vielen bunten Kugeln und Lichtern. Er flitzte hier hin und da hin, knabberte ein Stück Käse an und stibitzte einen kleinen Schinkenwürfel. Wie gut das schmeckte! Juniormaus schloss die Augen und rieb sich den Bauch. Natürlich kannte er den Geschmack von Käse und Schinken. Schließlich kam Papa Maus ab und zu von seinen Streifzügen im Haus mit derartigen Köstlichkeiten zurück. Doch so viel Käse und Schinken auf einmal, nein, das hatte er noch nie gesehen.

Wieder griff er nach einem Schinkenwürfel. Doch gerade als er sich das Stück in den Mund schieben wollte, schlug ihm jemand auf seine Pfote. Vor Schreck ließ Juniormaus den Schinkenwürfel fallen. Seine Augen wurden groß und größer, als er erkannte, wer da mit erhobenem Zeigefinger vor ihm stand. Das Christkind. Die silbernen Flügel blitzen im Lichterschein des Weihnachtsbaumes und die goldenen Sterne auf dem Kleid, was es trug, ebenso. Helles, lockiges Haar umrahmte das feine Gesicht. "Nun, nun", sagte es, "wer ist denn hier so gierig?" Wie schönste Weihnachtsmusik klang die Stimme. Doch noch ehe Juniormaus antworten konnte, kitzelte etwas seine Füßchen und er wachte auf.

Verwundert rieb sich Juniormaus die Augen. So sehr er sich auch gewünscht hätte, dass es anders sei, er lag in seinem Bettchen. Im Zimmer war dunkel. Nur unter dem Vorhang, den Mama Maus aufgehängt hatte, um den Schlafbereich vom Wohnzimmer abzutrennen, drang ein schwacher Lichtschein hervor. Juniormaus krabbelte aus seinem Bettchen. Schade, dachte er. Nur ein Traum. Und wenn nicht? Immerhin ist heute Weihnachtsnacht. Und sagt Papa Maus nicht immer, dass dies eine ganz besondere Nacht ist? Eine Nacht in der Wünsche wahr werden. Eine Nacht in der alles, wirklich alles möglich ist. Ja, genauso sagt es Papa Maus immer. Und was Papa Maus sagt, das stimmt. Juniormaus zitterte vor Aufregung. Vorsichtig schlich er sich zum Vorhang, hob sein Näschen in die Luft und schnupperte. Lag da nicht dieser feine würzige Duft nach Käse und Schinken in der Luft? Sein Magen schlug vor lauter Vorfreude einen Purzelbaum. Es musste einfach so sein.

Nun gab es für Juniormaus kein Halten mehr. Ohne weiter nachzudenken, schlüpfte er durch den Vorhang. Ein kleines Lichtlein, welches Mamamaus in der Weihnachtszeit immer auf die Fensterbank stellte, warf einen schwachen Lichtschein in die Wohnstube. Mama Maus macht das Lichtlein nie aus. "Es soll Fremden den Weg weisen in eine warme Stube", sagt sie stets, wenn Papa Maus mal wieder mit ihr schimpft, weil er Angst hat, dass die Vorhänge Feuer fangen könnten. Mama Maus legt dann nur den Arm um ihn. "Denk daran, wie uns einst ein Licht den Weg gewiesen hat, als wir fast erfroren wären!" Ganz verlegen wird dann Papa Maus und lässt sie gewähren.

Daran musste Juniormaus denken, als er das Lichtlein von der Fensterbank nahm und in die Stube leuchtete. So wie in seinem Traum stand mitten in der Stube ein wunderschöner Weihnachtsbaum. Mit bunten Kugeln und Lametta. Nur die Lichter brannten nicht. Und Käsestücke und Schinkenwürfel lagen auch nicht herum. Juniormaus leuchtete nach und nach die ganze Stube aus. Aber nichts. Kein Zipfelchen der Köstlichkeiten war zu finden. Nur unter dem Baum lagen jede Menge Päckchen. Eingehüllt in feinstes Papier. Da gab es rote und grüne, blaue und gelbe. Und alle waren sie mit Schleifen verziert. Juniormaus schnupperte an einigen Päckchen. Aber auch hier roch nichts so gut, wie in seinem Traum. Und auch vom Christkind, mit den hellen, lockigen Haaren und den silbernen Flügeln - keine Spur. Enttäuscht stellte Juniormaus das Lichtlein wieder auf die Fensterbank zurück. Von wegen in der Weihnachtsnacht ist alles möglich, dachte er. Papamaus hat also doch nicht immer recht.

Juniormaus hörte das Rascheln und Knistern erst, als er wieder durch den Vorhang schlüpfen wollte, zurück in sein Bettchen. Er blieb stehen und lauschte. Da, da war es wieder. Eindeutig, es raschelte unter dem Weihnachtsbaum. Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, näherte sich Juniormaus dem Baum. Das Rascheln und Knistern wurde lauter. So sehr sich Juniormaus auch bemühte, im Dämmerschein des Lichtes von der Fensterbank konnte  er nur vage die Päckchen unter dem Baum erkennen. Als er ein Flüstern und Wispern vernahm, zog sich sein kleines Mauseherz vor Angst zusammen. Jedoch war die Neugier viel größer als seine Furcht. Juniormaus trippelte so leise wie möglich in Richtung Fenster und drehte sich erst wieder um, als er im Schatten des kleinen Lichtes unter der Fensterbank stand. Jetzt waren die bunten Päckchen viel besser zu sehen. Was war das denn? Juniormaus hielt den Atem an. Ein silbernes Päckchen hatte sich erhoben und schaute mit funkelnden Augen genau in seine Richtung. Das blaue Schleifenband hatte sich teilweise gelöst und bildete zwei Beine und zwei Arme. Und mit eben diesen blauen Armen fuchtelte das Päckchen in der Luft herum. "So geht es nicht weiter", hörte Juniormaus es sagen. "Ja, genau, so geht es nicht weiter", kam es von einem orangefarbigen Päckchen mit lila Schleife aus der linken Ecke. Jetzt erhoben sich auch die anderen Päckchen. Juniormaus konnte sie murren hören, verstand aber nicht so recht, was sie sagten. Immer lauter wurde es in der Stube. Mittlerweile liefen einige der Päckchen, wie aufgescheuchte Hummeln, unter dem Weihnachtsbaum hin und her. "Ruhe!", raunzte plötzlich eines der kleineren Päckchen. Es war ein grünes, mit einer dicken goldenen Schleife auf dem Kopf. Augenblicklich wurde es still. Verdutzt blickten alle anderen Päckchen auf ihren kleinen grünen Kameraden. "Kleiner, was willst du denn?" Ein großes lilafarbenes Päckchen beugte sich zu dem grünen Päckchen herab, packte es an der Schleife und schüttelte es.

Gerne wäre Juniormaus dem grünen Päckchen zu Hilfe geeilt, doch er traute sich nicht aus dem Schatten heraus. Stattdessen kniff er die Augen zusammen. Als er sie wieder vorsichtig öffnete,  stand das kleine grüne Päckchen bereits wieder auf seinen goldenen Beinchen. "Das ist eben unser Schicksal", sagte es gerade. "Und dem können wir nicht entgehen." Das kleine grüne Päckchen sah sich in der Runde um. "Das ist Weihnachten nun mal so. Man packt uns ein, in schönes Papier und verziert uns mit Schleifenband. Und dann werden wir unter den Weihnachtsbaum gelegt."

"Ja, und am nächsten Morgen kommen die Kinder und zerren das schöne Band von uns und zerreißen das Papier in Sekundenschnelle", entgegnete ein gelbes Päckchen. "Niemand sieht, wie schön wir sind. Übrig bleibt nur Altpapier! Ich habe es so satt …!" Den Rest verstand Juniormaus nicht mehr, weil das gelbe Päckchen jetzt laut schluchzte. Ein dicker Kloß hatte sich auch bei Juniormaus im Hals festgesetzt. Die armen Päckchen. Da muss man doch was tun!

Juniormaus trat unter der Fensterbank hervor. "Liebe Freunde", setzte er an. Augenblicklich wurde es still. Keines der Päckchen rührte sich mehr. Die Ärmchen und Beinchen an den Päckchen rollten sich ein und banden sich danach,  wie von Zauberhand, wieder zu Schleifen zusammen. Bis es unter dem Baum aussah wie eh und je. Nun, nicht so ganz. Es herrschte ein ganz schönes Päckchendurcheinander. Juniormaus nahm seinen ganzen Mut zusammen und legte die Päckchen alle wieder ordentlich unter den Weihnachtsbaum. Vielleicht, dachte er später, als er wieder in seinem Bettchen lag, vielleicht habe ich das ja alles nur geträumt. Aber so ganz sicher war er nicht. Dennoch dauerte es nur ein paar Minuten, bis er tief und friedlich schlief.

Am Weihnachtsmorgen herrschte ein fröhliches Durcheinander in der Wohnstube der Familie Maus. Der Weihnachtsbaum strahlte und glitzerte mit den Mauskindergesichtern um die Wette. Überall auf dem Stubenboden lagen Papier und Geschenkband verstreut. Mittendrin saßen die Mauskinder und juchzten und lachten. Sie freuten sich über die schönen Geschenke, die das Christkind gebracht hatte. Mama Maus und Papa Maus saßen Hand in Hand auf der Küchenbank und schauten dem ganzen Trubel frohen Herzens zu. Nur Juniormaus saß etwas abseits. Er hatte sein Geschenk noch nicht ausgepackt. Ganz zart strich er über das gelbe Papier. Langsam löste er dann das rote Schleifenband und rollte es sorgfältig zusammen, bevor er vorsichtig das Papier entfernte. Dabei passte er genau auf, dass dieses keinen noch so winzigen Riss erhielt. Er strich das Papier glatt und faltete es zusammen. Dem Inhalt schenkte er kaum Beachtung. Papier und Band fest in den Pfoten haltend, trippelte er zu Mama Maus hinüber, die ihn erwartungsvoll ansah. Andächtig legte er ihr Papier und Band auf den Schoß. "Schau Mama, das ist viel zu schön, um im Altpapier zu landen. Leg es doch dem Christkind neben das Licht auf dem Fensterbrett. Dann kann es sich das Papier und das Band holen und nächstes Jahr wieder ein Päckchen für mich damit einpacken."

Ein wenig verwundert war Mama Maus schon über diese Bitte von Juniormaus. Aber wie hätte sie auch von all den Geschehnissen in der Weihnachtsnacht wissen können? Einer Nacht, in der alles möglich ist.

 

Text: Perdita Klimeck

Illustration: Sarah Engelhardt

 

Kommentare: 1
  • #1

    lyrikwelt (Sonntag, 21 Dezember 2014 11:36)

    Wieder einmal ein Märchen mit einer ganz deutlichen Aussage, die mir wunderbar gefällt. Wer denkt beim Auspacken ans Einpacken. Vielleicht sollte wir alle viel sorgfältiger mit den Dingen umgehen, die auf den ersten Blick unwichtig erscheinen und doch so wichtig sind. LG in die Weihnachtszeit Geli