Hunger

Semmel  bröseln,

weil die Eingangstüre quietscht.

Sattgeruch zerrt an den Magenwänden,

während Hände gleichsam krampfen.

Ein Euro klimpert nicht.

Aus dem hinteren Regal

nickt stumm ein altes Brot.

Die Fliege auf dem Kuchenblech -

sie stört sich nicht daran.

 

Seit zwei Stunden lungerte er nun schon vor dem Eingang der Bäckerei herum. Seit ihn die Kälte im Park, noch vor dem ersten Morgengrauen, geweckt hatte. Vielleicht war es aber auch die Kirchturmuhr gewesen, er hatte einen leichten Schlaf. Früher, ja früher, war es stets anders gewesen. Da hätte ihn Nichts und Niemand wecken können,  höchstens der Kaffeeduft aus der Küche. Vor Kälte zitternd rieb er die kalten Finger, um wenigstens ein bisschen Wärme zu erzeugen. Die Tasche, die er bei sich trug, hatte er fest unter seinen rechten Arm geklemmt. Seine Füße spürte er schon eine Weile nicht mehr, obwohl er ständig versuchte in Bewegung zu bleiben. So sehr auch die Kälte an ihm nagte, vermochte sie es nicht, den letzten Rest Wärme aus seiner Welt zu vertreiben.

"Eliza", dachte er. "Eliza  und Kaffee".

Müde ließ er sich nun doch auf den Stufen zur Eingangstüre nieder und lehnte seinen Kopf links an die rotbraune Backsteinmauer. Ein ausgemergeltes Gesicht blickte ihn stumpf aus der gegenüberliegenden Schaufensterscheibe an. Einschlafen durfte er auf keinen Fall. Deshalb versuchte er sich krampfhaft auf die Bilder in seinem Kopf zu konzentrieren. Bilder die ihn ständig begleiteten. Er projizierte Eliza neben sein Abbild auf die Schaufensterscheibe und schloss nun doch, in einem Moment tiefster Glückseligkeit, die Augen.

 

Eliza stand immer vor ihm auf,  ganz gleich wann er zur Schicht musste. Und sie wusste genau, was er brauchte. Sie brühte ihn immer frisch auf, nur für ihn. Kaffee aus diesen neumodischen Maschinen schmeckte ihm einfach nicht. Hellblau war der Melitta-Porzellanfilter. Das Wasser kochte sie in einem Kessel. Manchmal  wurde er von dem Pfeifen geweckt. Das waren die Morgen,  die er besonders liebte. Er drehte sich an solchen Tagen stets noch einmal  genüsslich im Bett um und wartete auf diesen unvergleichlichen Duft.

Sobald die seichten Schwaden seine Nase berührten, stand er auf. Auf dem Weg zum Bad konnte er das Brot riechen. Er mochte es besonders, wenn es gerade frisch aus dem Ofen kam. Dann konnte er es noch warm essen. Mit einer dicken Schicht gesalzener Butter. Es war herrlich, wenn die Butter zerfloss und bei jedem Bissen, gelbe Tropfen durch seine Finger rannen. Eliza schimpfte manchmal mit ihm, weil das frische weiße Tischtuch nicht immer davon verschont blieb. Er lächelte nur milde und stupste sie liebevoll in die Seite, wenn sie grummelnd neben ihm saß. Nie konnte sie ihm länger als zwei Minuten böse sein. Das wusste er, und dafür liebte er sie. Er liebte sie auch für das Brot.  Mit einer nur ihr eigenen Hingabe belegte sie, jeden Tag bevor er zur Arbeit ging, zwei große Scheiben mit Käse oder Wurst, schnitt eine Tomate oder Gurke, je nach Jahreszeit, in hauchdünne Scheiben, um seine Mahlzeit liebevoll damit zu dekorieren. Er sah ihr gern dabei zu. Die gestärkte Schürze raschelte dabei immer ganz leise, und wenn er in seiner Pause in das Brot biss, begleitete ihn dieses Geräusch, bis der letzte Rest seines Mahls aufgezehrt war.

Nun konnte er zum zweiten Mal am Tag ihren unvergleichliche Kaffee genießen. Sie hatte ihn, mit der perfekten Menge Zucker abgestimmt, in eine Thermoskanne gefüllt. Eine Kanne, auf die sie lange gespart hatten. Teuer, ja, aber der Kaffee war  auch noch in der zweiten Pause  so heiß, wie er es gern hatte. Aus dem Plastikbecher trinken, der zu der Kanne gehörte, kam für ihn nicht in Frage. Das wäre ihm vorgekommen wie ein falsches Gebet. Seine Porzellantasse war ihm heilig. Eliza hatte sie ihm zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt. Für andere mochte es nur eine einfache, hellgraue Tasse sein, für ihn war es die Liebe von Eliza. Sorgfältig spülte er sie jedesmal aus und trocknete sie mit dem rot-karierten Tuch, welches Eliza ihm jeden Tag mit in seine Tasche packte.

In der zweiten Pause trank er nur Kaffee und aß  nichts. Das brauchte er auch nicht. Eliza wartete jeden Tag schon mit einem warmen Esen auf ihn, wenn er von der Schicht kam.  Nie wusste er, was ihre Hände wieder zaubern würden. Meistens versuchte er schon ein paar Meter vor dem Haus Gerüche zu erhaschen, um erraten zu können was auf dem gedeckten Tisch steht, wenn er die Küche betritt. Meinte er einen Geruch zu erkennen, blieb er versonnen stehen. Er setzte  langsam einen Fuß vor den anderen,  um dieses Gefühl der heimlichen Vorfreude noch ein wenig länger genießen zu können.  Er spürte wie sich seine Geschmacksnerven wie eine kleine Blüte entfalteten, doch so sehr er sich auch mühte, kurz vor der Haustür wurden seine Schritte, ohne sein Zutun,  schneller.  Zuweilen ertappte er sich dabei wie er rannte.

Es war nur ein kleines Häuschen, ja, man konnte es schon fast winzig nennen.  Zu mehr hatte  es eben nicht gereicht. Das Haus lag in einer ruhigen Wohngegend und besaß sogar einen Garten. Auch klein, aber er reichte aus um dort Tomaten, Kohl, Gurken und Kartoffeln anzupflanzen. Die Kräuter, die Eliza benötigte, zog sie in kleinen bunten Töpfen auf der Festerbank. Töpfe, die er liebevoll für sie ausgesucht hatte, wenn wieder mal ihr Geburtstag anstand. Gerne schenkte er ihr auch ausgelesene Gewürze, die er in einem kleinen Laden in der Kreisstadt erstand. Es machte ihn glücklich, wenn sie ihre runde Nase in die bunten Tüten tauchte, die Düfte tief einsog und ihm sogleich von all den köstlichen Rezepten vorschwärmte, für die sie dieses oder jenes Gewürz verwenden würde.

Kinder gab es keine, es war ihnen nicht vergönnt. Nach Eliza`s vierter Fehlgeburt fügten sie sich klaglos in ihr Schicksal. Eliza wollte nach dieser Zeit wieder als Näherin arbeiten. Ihr einziger Streit in all den Jahren. Er redete mit Engelszungen dagegen, und schließlich gab sie nach.

Vor der Haustür atmete er noch einmal tief ein, holte seinen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Türe mit einer fast andächtigen Bewegung auf. Nun trennten ihn nur noch wenige Schritte von Eliza. Und dem Essen, von dem er wusste, dass es schon dampfend auf dem gedeckten Tisch stand. Keinen Tag ihrer Ehe war es nicht so. Er schätzte Pünktlichkeit sehr, und sie akzeptierte es.  Seine Arbeit in der Fabrik war hart, aber die Schichten endeten stets zur gleichen Zeit. Sobald die Werkssirene ertönte, packte er seine Tasche und machte sich auf den Heimweg. Nie ging er mit seinen Kollegen mit, die sich,  gerade nach der Mittagsschicht,  gerne zu einem Bier trafen. Er brauchte das nicht, er brauchte nur Eliza und ihr Essen.

Im Flur stellte er seine Tasche an der Garderobe ab und hängte seine Arbeitsmütze an einen Haken. Sein nächster Weg führte ihn in den Keller. Hier entledigte er sich seines Arbeitsanzuges und wusch sich mit kaltem Wasser, Gesicht, Hände und Oberkörper, sorgfältig an einem Waschbecken. Frische Kleidung hing für ihn auf einem Bügel neben dem Becken. Er schlüpfte hinein, berauschte sich an dem Duft der Reinheit  und mit jedem Teil,  was er anzog,  wuchs sein Verlangen. Seine Nase zitterte nun schon leicht. Die Vorfreude machte sich nun auch in seinem Mund bemerkbar. Er spürte,  wie dort langsam das Wasser zusammenlief. Schnell noch die Pantoffeln übergestreift und dann flugs die Treppe hinauf. Vor der geschlossenen Küchentür atmete er noch einmal tief den würzigen Duft ein.

Andächtig öffnete er dann die Tür. Eliza stand am Herd, in ihrer strahlend weißen Schürze und drehte sich langsam zu ihm um. Sie spitzte die Lippen zu einem Kussmund und ihre Augen lächelten ihn wissend an.

" Da bist du ja", sagte sie jedesmal. Nach dieser Feststellung legte sie stets den Kochlöffel aus der Hand, kam auf ihn zu und streichelte mit einer Hand liebevoll über seine kratzige Wange.

"Harter Tag?", fragte sie. Nie antwortete er, so überwältigt war er von dem Geruch, den sie verströmte. Er beugte sich nur über sie und sog den Duft ihrer Haare ein, in dem noch ein Hauch des Brotes hing, welches sie erst morgens  gebacken hatte. Dann küsste er flüchtig ihre Stirn, bevor er sich an den gedeckten Tisch setzte. Sein Teller dampfte vor lauter Köstlichkeiten.

Neben den in Butter geschwenkten Kartoffeln und dem bunten Farbenspiel, des stets liebevoll drapiertem Gemüses, war es der satte Geruch des Fleisches, der ein wohliges Gefühl tiefster Zufriedenheit in ihm auslöste. Er aß ruhig und genoss jeden Bissen. Glücklich schaute Eliza ihm dabei zu. An schönen Tagen, wenn er aus der Morgenschicht kam, gingen sie nach dem Essen manchmal spazieren. Gern nahm er dabei Elizas Hand. Sie war so klein und zart, wie sie da so in seiner kräftigen Arbeitshand lag. Wenn er das bemerkte, drückte er Elizas Hand ein wenig fester. Dann überwältigten ihn stets seine Gefühle, die er für sie hegte. Immer würde er sie schützen, so sehr liebte er sie.

Am liebsten aber kam er Freitags nach Hause. In den Essensduft mischte sich Freitags der süße Geruch des Bienenstichs, den sie für das Wochenende immer buk. Ihr Haar roch dann doppelt so gut. An solchen Tagen zog er sie in seine Arme, hielt sie minutenlang fest und berauschte sich an dieser Mischung aus frischem Brot und Bienenstich.

Es war auch ein Freitag, als sich alles veränderte.

Als er sich dem Haus näherte, ahnte seine Nase schon, dass etwas nicht stimmt. Nicht stimmen konnte. Kein Bienenstichduft, keine Geruch von Fleisch und Gewürzen. Er war verwirrt und seine Beine fingen an zu zittern, je näher er dem Haus kam. Verzweifelt suchte er nach einer harmlosen Erklärung. Vielleicht ist heute nicht Freitag, dachte er . Doch im Grunde seines Herzens, wusste er, dass dem nicht so ist. Kälte kroch durch seine Glieder und klammerte sich eisig an jeden einzelnen Herzschlag.

 

Als die Verkäuferin um Punk acht Uhr die Ladentür öffnete, zuckte er nicht einmal, so versunken war in  seiner alten Welt. Eine Welt, die seit jenem Freitag nicht mehr für ihn existierte. Sie beugte sich über ihn, und rüttelte sanft an seinen Schultern.

"Guten Morgen Herr Roter!", sagte sie freundlich. "Sie wissen doch, dass sie hier nicht schlafen sollen. Hier, nehmen Sie!  Wie immer, zwei alte Brötchen von gestern. Der Kaffee ist heiß, passen Sie also beim ersten Schluck auf. Heute habe ich auch noch einen Rest Zuckerkuchen für sie, er ist nicht mehr ganz frisch und etwas eingefallen. Ich weiß ja, sie mögen lieber Bienenstich, aber es ist nichts übrig geblieben. Freitags ist halt immer Bienenstichtag und es ist  alles verkauft worden gestern." Sie drückte ihm einen Plastikbecher in die Hand und hielt ihm eine Tüte hin.

Mittlerweile war er wieder zu sich gekommen. Traurig blickte er die Verkäuferin an, die sich, angetan mit einer roten Schürze,  über ihn beugte.

"Danke!", flüsterte er leise, "danke, Brötchen ist gut, Kaffee und Zuckerkuchen auch ... und wegen dem Bienenstich ... ich komme nächsten Samstag wieder."

Er nahm die Tüte, stand langsam auf, sog noch einmal den Duft aus der Bäckerei ein und schlurfte mit gesenktem Kopf in den Park zurück. Er sah nicht mehr den mitleidigen Blick der Verkäuferin, die sich seufzend zu ihrer neuen Kollegin umwandte. Und er hörte auch nicht, was sie leise zu ihr sagte.

" Armer Kerl, der Herr Roter, seit dem Tod seiner Frau ging es mit ihm bergab. Zuerst war die Arbeit weg, dann das Haus. Er schläft meist im Park. Früher hat er immer so freundlich gegrüßt, wenn er hier vorbei kam. Eingekauft hat er hier nie etwas. Heute lächelt er nicht mehr, obwohl ich glaube ein Lächeln in seinen Augenwinkeln zu erkennen, wenn ich ihm ein Stück Bienenstich geben kann."

Er war nicht mehr allein im Park. Wie jeden Morgen begegnete er einigen Joggern und Hundehaltern, die die frühen Morgenstunden nutzten, um den Tag an frischer Luft zu beginnen. Eine ältere Dame grüßte ihn und ihr Dackel sprang kläffend an ihm hoch. Er wehrte ihn ab, nickte der Frau kurz zu und schlurfte weiter. Nach wenigen Minuten hatte er die Bank erreicht, auf der er gestern genächtigt hatte. Aufatmend setzte er sich und streckte seine Beine. Immerhin war zumindest etwas Gefühl in die Füße zurückgekehrt. Er blinzelte in die Novembersonne, dankbar dafür, dass sie etwas Wärme schenken würde im Laufe des Tages. Eigentlich war es ihm gleichgültig, so wie ihm alles gleichgültig war, seit jenem Freitag. Doch in letzter Instanz hielt ihn immer etwas davon ab, dieser Gleichgültigkeit endgültig nachzugeben und Eliza zu folgen. Er wusste, Eliza hätte das niemals gewollt. Religiös wie sie war, kam das einer Todsünde gleich. Und das Letzte was er wollte, war, Eliza zu enttäuschen.

Mit einer raschen Bewegung griff er in die Tüte nach einem der Brötchen und zerbröselte es. Lange brauchte er nicht zu warten. Eine Schar Spatzen sammelte sich in Sekunden vor seiner Bank. Gedankenverloren fütterte er sie, bis kein einziger Krümel mehr in seiner Hand lag. Mit immer noch klammen Fingern öffnete er seine Tasche, nahm ein unansehnliches, rot-kariertes Küchentuch heraus und breitete es neben sich auf der Bank aus. Mühsam versuchte er es glatt zu streichen. Wieder griff er in die Tasche, zog eine  graue Porzellantasse hervor, stellte sie vorsichtig auf das Tuch und füllte , sorgfältig darauf achtend, nur ja keinen Tropfen zu vergießen, den Kaffee aus dem Plastikbecher um. Die Tasse in beide Hände nehmend, sog er den Kaffeeduft ein und trank in langsamen Schlucken, den Blick verloren in die Ferne gerichtet.

Wärme durchströmte seinen Körper und er fühlte den unsagbaren Schmerz, als sich langsam der Hunger durch seine Eingeweide fraß.

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