Das geschenkte Herz

Die Mär von Löningen

 

Vor langer,  langer Zeit hatte jedes Land einen König. Auch dieses Land, von dem ich jetzt erzähle, wurde von einem König regiert.

Löningen war ein großes Land mit vielen Bürgern, Bauern und Handwerkern. Genauso groß und mächtig war auch Siegurt, der König. Er lebte auf einer riesigen Burg, hoch oben auf dem höchsten Berg des Landes. Aber Siegurt war kein guter König. Er war oft zornig und ungerecht. Alle seine Untertanen hatten Angst vor seinen Wutausbrüchen. Hinter vorgehaltener Hand flüsterten die Hofnarren oft, dass des Königs Herz nur ein Klumpen Stein wäre, den er aus dem Felsen seines Berges gebrochen hätte. Siegurt merkte von all dem nichts. Er glaubte, er sei der gütigste König der Welt.

Eines Tages, als er durch seinen Park spazierte, hörte er zwei Hofnarren, wie sie sich hinter Büschen über sein Herz aus Stein unterhielten. Wütend stellte er sie zur Rede. Die beiden Narren zitterten und schlotterten vor Angst. Zuerst stritten sie alles ab, aber dann fasste der kleinere der Narren seinen ganzen verbliebenen Mut zusammen und erzählte dem König, was das Volk über sein Herz sagt. Das machte den König nachdenklich. Ein Herz aus Stein, nein, das wollte er nicht haben.

Wie jeder König hatte auch Siegurt drei weise Männer zur Seite, die ihn in allen Dingen berieten. Noch am gleichen Tag rief er sie zusammen und forderte sie auf, das Problem zu lösen. Doch auch die weisen Männer wussten keinen Rat.

Der König schlief sehr unruhig in dieser Nacht. Immer wieder stand er auf und schritt durch sein Zimmer. Zehn Fuß hin und zehn Fuß zurück. Irgendetwas musste er doch tun können. Als die ersten Strahlen der Morgensonne in seine Kammer fielen, hatte er endlich  eine Idee. Rasch zog er seinen besten roten Königsmantel an, setzte seine Krone auf und befahl den zwei Hofnarren, die Kutsche bereitzuhalten. Er wollte in die nächste Stadt fahren und sich ein neues Herz kaufen.

In der Stadt war Markt und der König befahl dem Kutscher, mitten zwischen den Ständen, genau am Brunnen, zu halten.

Die Bürger waren erstaunt, ihren König zu sehen. Ängstlich wichen sie zurück und beobachteten argwöhnisch die große Kutsche,  die von vier schnaubenden, weißen Rössern gezogen wurde.  Siegurt schlug den Kragen seines Mantels zurück und öffnete die Kutschentür. Hoheitsvoll, wie es sich für einen König gehört, verließ er die Kutsche und baute sich vor dem Brunnen auf.

"Bürger!", rief er mit lauter Stimme. "Mir ist zu Ohren gekommen, dass mein Herz aus Stein sein soll. Einhundert Taler gebe ich demjenigen, der mir ein anderes Herz beschafft."

Die Menge verharrte sprachlos  und niemand rührte sich. Nach einer Weile fingen seine Untertanen leise an zu tuscheln. Der König ist verrückt geworden, meinten sie. Ein Herz kaufen, das geht doch gar nicht. 

Da sich niemand meldete, wandte sich der König mit dem gleichen Appell an die Handwerker und Bauern, die ihre Waren ausstellten. Auch hier fand er nichts anderes, als fragende, ungläubige Gesichter. Zwei alte Bauern schüttelten sogar wie wild mit ihren Köpfen. Langsam wurde der König ungeduldig.

"Ihr verkauft hier soviel", schrie er in die Menge. "Da wird doch wohl irgendwo noch ein Herz dabei sein!"

Fuchsteufelswild wurde er und fing an seine Untertanen mit Flüchen zu belegen, bis ihn ein altes hutzeliges Weib unterbrach. "Mein Herr!", sagte sie mit hoher Stimme. "Mein Herr, wisse, Herzen kann man nicht kaufen. Es gibt nur einen Weg, sie müssen jemanden finden, der Ihnen ein Herz schenkt. Aus freien Stücken, ohne jeden Zwang."

Verblüfft starrte Siegurt auf das alte Weib. "Schenken? Wer sollte mir denn sein Herz schenken, wo ich doch so unbeliebt bin, hier in meinem Land."

Ganz traurig wurde der König und schlich gesenkten Hauptes zu seiner Kutsche zurück.  Er ging so gebeugt, dass ihm die glänzende Krone vom Kopf fiel. Als er sich zur Erde bückte, um die Krone aus dem Staub zu heben, war dort plötzlich schon eine kleine, zarte Hand, die gleichfalls nach der Krone griff. Die Hände berührten sich und es war dem König, als wenn eine wärmende Flut ihn erfasste. Er hob den Kopf und blickte in zwei leuchtende blaue Augen. So blau wie das Meer, dachte er, man möchte darin versinken. Ohne weiter auf die Krone zu achten, nahm er die Hand dieser wundersamen Gestalt und richtete sich mit ihr auf. Vor ihm stand eine junge Bauernmagd, die ihn herzlich anlächelte. Ein Lächeln, das ihm den Atem raubte. Tausend Nadelstiche prickelten auf seiner Haut.

"Wer bist du?", fragte er verwirrt. Er konnte seinen Blick nicht von dem lieblichen Mädchen lösen.

"Spürst du das nicht?" Glockenhell war die Stimme des Mädchens. Sie nahm die Hand des Königs und legte sie auf ihr Herz. "Spürst du das Pochen, es schlägt nur für dich. Wenn du dein Ohr daran legst, kannst du hören was es dir sagen will."

Siegurt senkte seinen Kopf auf das Herz des Mädchens und lauschte. Tack, tack, tack, ich liebe dich, tack, tack, tack. Immer wieder drangen diese Töne an sein Ohr. Ganz weich wurde bei dieser Melodie das Herz des Königs.

Das Mädchen berührte sanft das Haar des Königs und streichelte sein Haupt. "Das ist mein Herz", flüsterte es. "Ich schenke es dir." 

Als Siegurt das hörte, war es ihm, als wenn etwas Hartes in seiner Brust zerspringen würde. Er fühlte sich sonderbar frei  und so stark. Er nahm das Mädchen auf seine Arme und trug es zur Kutsche.  "Nie mehr", versprach er, "nie mehr werde ich mich von dir und deinem Herzen trennen."

Die Kutsche verließ den Marktplatz und es war,  als ob ein Regenbogen sie begleiten würde.

"So ist es recht", murmelte das alte Weib und griff flugs nach der goldenen Krone, die noch immer im Staub lag. Ein rechter Preis für ein geschenktes Herz, dachte sie und schlich so schnell sie konnte davon.

Noch viele Jahrhunderte später erzählte man sich in Löningen die Geschichte vom geschenkten Herz. Und von Siegurt, dem großen König, den niemals wieder jemand bezichtigte, ein Herz aus Stein zu haben. Denn ab diesem Tage war er der gütigste König, den ein Land sich je vorstellen konnte. Mit einem Herz aus Gold.


Text: Perdita Klimeck

Illustration: Sarah Engelhardt

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Kommentare: 1
  • #1

    lyrikwelt (Dienstag, 24 Februar 2015 14:38)

    Eine Geschichte, mit einem tiefsinnigen Hintergrund. Wer die wahre Liebe trifft, wird von Manchem geheilt. selbst ein vereistes Herz kann tauen. Selbst die kostbare Krone hat der König nicht mehr vermisst. Ich wünsche allen eine so große Liebe, die das Eis schmelzen und die die Jahre überdauert. LG Geli