Die Brücke

"Manchmal bliev ich hück noch stonn, op d'r Südbrück mem Rögge noh Bonn …"*

 

Ich weiß nicht, Dauerschleife ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Die Textzeile ist eher wie eine kleine Bimmelbahn, die ab und an bei mir anhält. Allerdings irgendwie regelmäßig in den letzten Tagen. Kasalla auf Schienen.   

 

Fluss ist Fluss hast du immer gesagt. Und an das Blaue Wunder käme eh keine andere Brücke dran. Ich habe stets geschwiegen. Manchmal, an Tagen, wenn sich die Sonne in dem Stahlgerüst verfing, habe ich sogar genickt. Ja, du hast recht. Das Blaue Wunder ist eine schöne Brücke. Auch die Augustusbrücke ist schön. Ich spaziere gerne dort rüber. Genieße es, wenn der Wind meine Haare zerzaust und unter mir die Elbe rauscht. Auch heute. Obwohl alles grau ist. Um mich herum, in mir. Ach, und überhaupt. November eben.

 

Grau ist keine Farbe. Ich höre deine Stimme genau. Du brauchst sie nicht hinter der Steinbrüstung zu verstecken. Ich könnte dir jetzt entgegnen, dass Grau eine ebensolche Farbe ist wie Rot. Oder Gelb. Oder Grün. Aber ich lass es. So wie ich es immer gelassen habe. Du hast es nie verstanden. Und wirst es auch nie verstehen. Jetzt sowieso nicht mehr.

 

Hättest du mir nur einmal, ein einziges Mal, richtig zugehört. Wer weiß, du hättest vielleicht erkannt, wie großartig und faszinierend Grau in all seinen Schattierungen sein kann. Keine andere Farbe hat so viele Facetten. Sicher, es glänzt nicht. Pure Eleganz, eher. Dafür strahlt es Ruhe aus. Verlässlichkeit, wenn ich mit meinen Händen über Beton streiche. Und der Himmel? Sieh ihn dir an. Eine brodelnde Masse heute, ein Graugemisch, formvollendet. Gefühlsbeladen, wie es keine andere Farbe je zustande bringen würde. Auch die Elbe ist grau. Schmutziggrau. Wie der Rhein, wenn ich im November auf der Südbrücke stehe. Und doch, so anders.

 

 

 

"Du määs immer wigger su, ejal wat passeet … "**

 

Und wieder Kasalla. "… du määs wigger esu als wör nix passeet …"**

 

Der kalte Wind treibt mir Tränen in die Augen. Vielleicht ist es aber auch nur der Qualm meiner Zigarette. Ja, ich rauche wieder. Hättest du wohl nicht gedacht. Nach all den Jahren. Die teuren Vorhänge? Ach, scheiß auf die Vorhänge. Wozu gibt es Waschmaschinen. Ich rauche wieder. Basta.

 

Irgendwie tut es gut, dass du daran nichts ändern kannst. Du nicht und auch nicht deine komische Mutter. Mutter! Wieso hat sie eigentlich immer darauf bestanden, dass ich sie so nenne? Sie weiß doch bis heute nicht, was das Wort eigentlich bedeutet. Für mich bedeutet. Mutter ist Liebe, grenzenlos. Das sind Arme, die mich tröstend halten. Ein Mund, der mit mir lacht und Augen, die mit mir weinen. Mutter, das ist Heimat. Und die Südbrücke. Auch die ist Heimat. Meine Heimat.

 

Jetzt lösen sich die Tränen. Endlich. Ich lasse sie laufen, einfach so. Wen juckt das schon. Mich nicht. Und dich? Früher schon, naja, aber das ist lange vorbei. Ich habe in all den langen Jahren gelernt, die Tränen zu schlucken. Weil sie dich störten. Weil mein Heimweh dich störte. Wie überhaupt alles dich störte, was mit Gefühlen zu tun hatte. Und mit meiner Vergangenheit. Zugern hätte ich dich manchmal an den Schultern gepackt und geschüttelt. Dich angeschrien, damit du mich endlich wieder siehst. So, wie ich wirklich bin. Damit du verstehst …

 

Heute weiß ich, du wolltest nie verstehen. Auch dich nicht. Egal was passierte, du hast immer weitergemacht. Wie die Elbe unter mir. Wie der Rhein. Wie jeder Fluss. "… esu als wenn et dich nix anjeiht …"**

 

Auch als unser Sohn starb, hast du es einfach hingenommen. Reiß dich zusammen, das Leben geht weiter – dein Spruch, wenn ich mal wieder mit den Tränen gekämpft habe.

 

Auch du hast getrauert, nur eben nicht mit mir. Es wäre ungerecht, wenn ich dir deine Trauer absprechen würde. Du denkst vielleicht, ich hätte es nicht gesehen, habe ich aber. Tränen hinterlassen Spuren, da nützt auch die verschlossene Badezimmertür nichts. Wenn ich ehrlich bin, hat mir deine Gleichmütigkeit sogar geholfen, mit all dem fertig zu werden. Weiter zu machen. Manchmal. Wortlos, wie der Fluss.

 

   

 

Es ist kalt geworden. Der Wind hat meine Tränen längst getrocknet. Langsam wird es dunkel. Noch ein Grauton. Aber keiner der mir Angst macht. Meine Hand umklammert den Rheinkiesel in meiner Jackentasche. Ausgelacht hast du mich, weil ich immer Sorge hatte ihn zu verlieren. Diesen Stein. Was weißt du denn schon von Verlust. Ich hätte nie aus Köln weggehen dürfen. Nicht mit dir. Auch mit keinem anderen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht hätte … Mein Gott, was rede ich denn da. Hätte, wäre, wenn … es ist nun mal so. Reiß dich zusammen.

 

Nur mühsam verkneife ich mir ein Grinsen. Und doch schiebt es sich in mein Gesicht. Schief. Reiß dich zusammen. Zwanzig Jahre habe ich mich zusammengerissen. Jetzt habe ich keine Lust mehr.

 

Der Koffer steht mir im Weg, ich schiebe ihn ein wenig zur Seite und beuge mich über die Mauer der kleinen Plattform auf der Brücke. Die Sicht ist schlecht, die Elbe unter mir nur zu erahnen. Doch ich höre sie. Und ihre Geschichten. Die auch meine sind. Etwas.          

 

Ich könnte springen, ja, könnte ich. Jetzt und hier. Von der Augustusbrücke. Oder Morgen, von irgendeiner anderen Brücke. Dresden hat eine Menge Brücken. Ich könnte mir also eine aussuchen. Ganz in Ruhe. Will ich aber nicht. Ich will nur Adieu sagen. Dir Herbert und unserem Sohn. Wie kannst du nur, hör ich dich sagen. Weißt du, das Grab, ein Kreuz. Mag sein das ist ein Platz. Für mich nicht. Sein Platz ist bei mir. In meinem Herz. Immer und ewig. Egal wo ich bin. Mein Zug geht in einer Stunde. Nach Hause. Nach Köln. Und da wartet sie auf mich. Die Südbrücke. Und ich werde dort stehen, mem Rögge noh Bonn.* Frei

 


*   Texstellen aus dem Lied "Marie" von Kasalla

** Textstellen aus dem Lied "Der Fluss" von Kasalla