Prinzessin Himmelblau

Vor langer Zeit lebte in einem kleinen Tal, gleich hinter dem Märchenwald, ein armer Schafhirte mit seiner Frau und seinem Sohn. Eine lange Trockenheit im Sommer hatte Kartoffeln, Gemüse und Gras vernichtet und so litten sie alle Hunger. Die Schafe fanden nichts mehr zu Fressen auf den Weiden und eines nach dem anderen musste geschlachtet werden. Einzig ein Muttertier und ein Bock waren der kleinen Familie noch geblieben. Der Winter war kalt und eisig und ein ums andere Mal dachte der Hirte, dass sie ihn nicht überstehen werden. Doch dann kam der Frühling und mit ihm die Hoffnung.

Im Stall gebar das Mutterschaf gleich zwei Lämmer. "Das ist ein gutes Zeichen", sagte der Hirte und trug seinem Sohn Gisbert auf, einem schön gewachsenen Jüngling, sich um die kleinen Lämmer gut zu kümmern. "Wachsen und gedeihen sollen sie, dann haben wir wieder eine Grundlage für eine neue Herde."

Derweil sich Gisbert um die Schafe kümmerte, machte sich sein Vater zusammen mit der Mutter auf in das Königreich hinter dem Märchenwald. Dort hoffte der Hirte einen Käufer für die Schafswolle zu finden, die seine Frau den Winter durch gesponnen hatte, um sich von dem Erlös zwei weitere Schafe kaufen zu können.

Gisbert indes, hütete die beiden Lämmer wie seinen Augapfel. Das eine wuchs und wurde von Tag zu Tag kräftiger, während das zweite Lamm ihm etwas Sorge bereitete. Es schien nur langsam wachsen zu wollen, schmiegte sich stets an ihn und folgte ihm auf Schritt und Tritt, wohin er auch ging. Und noch etwas war merkwürdig an dem Lämmchen. Das Fell  nahm an manchen Tagen im Sonnenlicht eine hellblaue Farbe an. Aus diesem Grund nannte er das Lamm "Prinzessin Himmelblau".

Jede Nacht lag Prinzessin Himmelblau vor seinem Bett und hütete seinen Schlaf. Sobald Gisbert die Augen aufschlug, sprang sie auf seine Bettdecke und leckte ihm über das Gesicht. Tagsüber kümmerte sich Gisbert um Haus und Tiere. Er ging in den Wald und sammelte Beeren und Holz für den Winter. Bei all der Arbeit vergaß er aber niemals, mit Prinzessin Himmelblau über die Wiesen zu toben. Friedlich ging so der Sommer vorüber. Als die Äpfel an den Bäumen rot und gelb leuchteten, kehrte der Hirte mit seiner Frau zurück. Ohne Geld und ohne neue Schafe. Im Märchenwald waren sie in einen Hinterhalt der bösen Baumzwerge geraten, die sie ausgeraubt hatten. Geradeso waren sie mit ihrem Leben davongekommen. Den Herbst über konnten sie noch von dem Leben, was die Natur hergab. Doch mit dem Winter begann wieder das Hungern. Schweren Herzens schlachtete Gisbert zusammen mit seinem Vater zuerst den Bock und dann das Muttertier. Dann, eines Morgens, befahl er Gisbert, auch die mittlerweile herangewachsenen Lämmer zu töten. Gisberts Herz war voller Trauer, als er den Stall betrat. Doch es musste sein, dass wusste er, denn sonst würden sie verhungern. Er zitterte am ganzen Körper, als das erste Lamm tot vor ihm auf dem Stallboden lag. Prinzessin Himmelblau rieb ihren Kopf an seinem rechten Bein, als wollte sie ihm Trost spenden. Traurig bückte er sich zu ihr hinunter und streichelte ihr über das gelockte Fell. Tränen rollten über seine Wangen. "Ich kann es nicht tun", flüsterte er. "Das Fleisch reicht für Vater und Mutter, und wenn ich auch verhungere, ich kann dich nicht töten!"

Da er wusste, dass sein Vater Prinzessin Himmelblau nicht am Leben lassen würde, entschloss er sich, den Hof zusammen mit ihr zu verlassen. "So haben wir vielleicht  beide eine Chance!"

Viele Tage liefen sie gemeinsam durch den dunklen Märchenwald. Tagsüber suchten sie am Wegesrand nach Früchten und Pilzen. Nachts schliefen sie dicht aneinandergeschmiegt unter Bäumen und in Höhlen. Immer auf der Hut vor Baumzwergen und allerhand Gesindel, welches sich im Märchenwald herumtrieb.

Eines Nachts erwachte Gisbert von einem knackenden Geräusch. Er setzte sich auf und horchte in die Dunkelheit. Prinzessin Himmelblau war ebenfalls erwacht. Gisbert spürte ihre Angst und legte beruhigend eine Hand auf ihr Fell. Nur Sekunden später tauchten aus dem Dickicht zwei rotglühende Augen auf. Ein Wolf! Gisbert handelte ohne zu zögern. Er zückte sein Messer und stürzte sich auf das Untier. Nach einem heftigen Kampf, lag der Wolf schließlich tot zu seinen Füßen.

"Du hast mir das Leben gerettet. Nun schon zum zweiten Mal, das werde ich dir nie danken können."

Verwundert sah sich Gisbert um. "Wer spricht da mit mir?"

"Ich natürlich, Prinzessin Himmelblau. Wer denn sonst. Oder siehst du vielleicht noch jemanden außer mir hier?"

Tatsächlich war außer dem Lamm niemand zu sehen. Gisbert bückte sich und schloss Prinzessin Himmelblau in seine Arme. "Nun denn, dann kannst du eben sprechen. Im Märchenwald sind schon viele Dinge geschehen, die anderenorts unmöglich scheinen. Mir soll es recht sein, so habe ich ab jetzt wenigstens etwas Unterhaltung."

Die nächsten Tage waren, während sie weiterzogen, angefüllt mit Gelächter und alten Geschichten, die sie sich gegenseitig erzählten. Bei all diesen Geschichten vertraute ihm Prinzessin Himmelblau an, dass sie nur solange sprechen könne, bis man ihr zum ersten Mal das Fell scheren würde. Dann wäre der Zauber gebrochen.

Nicht lange und sie erreichten das Königreich hinter dem Märchenland. Viele Dörfer mussten sie noch durchqueren bis sie die Stadt, in der der König des Landes sein Schloss hatte, erreichten. Die Sonne schien an diesem Tag und das Fell von Prinzessin Himmelblau leuchtete in einem Blau, wie der schönste Sommerhimmel. Mehr als einmal wurde er beim Gang über den Markt angehalten. "Was für ein wunderbares Fell", sprachen die Händler. "Das wird feinste Wolle geben. Verkauft mir das Lamm."  Doch Gisbert verneinte stets.

Als sie fast das Ende des Marktes erreicht hatten, kamen einige Reiter auf sie zu, die eine Kutsche begleiteten. Die Leute machten Platz, denn in der offenen Kutsche saß die Tochter des Königs.  Sie war wunderschön, hatte langes blondes Haar, welches im Wind um ihr Gesicht flatterte wie Schmetterlingsflügel.  Um Gisbert war es geschehen. Er sah ihr nach, bis sie in der Menge verschwunden war. "Schlag sie dir aus dem Kopf", sagte ein alter Mann neben ihm, dem nicht entgangen war, wie es um Gisbert stand. "Sie ist blind. Eine Hexe hat ihre Augen mit einem Fluch belegt. Und nur wer ihr ein wollenes Tuch bringt, genau in ihrer ursprünglichen Augenfarbe, wird sie erlösen können."

Andere erzählten Gisbert, was man schon alles versucht hatte. Täglich kamen Jünglinge angereist, mit Fellen in allen Farben dieser Erde. Stets ließen sie die Prinzessin weinend und blind zurück. Denn nie traf ein Weber, bei allen Färbekünsten, die ursprüngliche Augenfarbe der Königstochter. Himmelblau sollen sie einst gewesen sein. Sommerhimmelblau.

Tag für Tag stand Gisbert von nun an am Tor des Schlosses und versuchte einen Blick auf die Königstochter zu werfen. Er war bei einem Bauern untergekommen, für den er auf dem Feld arbeitete. Seine Sehnsucht wurde größer und größer, so sehr verzehrte er sich nach ihr. Prinzessin Himmelblau machte sich Sorgen. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus. "Vielleicht kann ich dir helfen. Scher mich, spinne Wolle aus meine Fell und lass daraus ein Tuch weben. Wenn du Glück hast, hat mein Fell genau die richtige Farbe."

Doch von diesem Angebot wollte Gisbert nichts wissen. "Dann verlierst du deine Stimme, und wenn es wieder nicht die richtige Farbe ist, habe ich sie dir umsonst genommen. Auf keinen Fall. Ich konnte dich nicht töten und deine Stimme kann ich dir auch nicht nehmen. Die Chance ist zu gering."

"Aber es ist eine Chance, die einzige, die du vielleicht hast", versuchte Prinzessin Himmelblau ihn zu überzeugen. Gisbert blieb hart und litt weiter. So sehr, dass er vor Kummer krank wurde. Er lachte nicht mehr und eines Tages versank er ganz in Schweigen. Nur die Arbeit und das Wissen, dass er einen Blick am Tor auf sie werfen konnte, hielten ihn am Leben.

Tage vergingen, Wochen, der Winter schied und auch der Frühling. Und eines Morgens fasste Prinzessin Himmelblau einen Entschluss. Niemand bemerkte ihr Verschwinden. Selbst Gisbert nicht, so sehr war er mit sich selbst beschäftigt.

Prinzessin Himmelblau kehrte indes zurück in den Märchenwald. Trotz einiger Gefahren, die dort auf sie lauerten, gelang es ihr, die Lichtung zu finden, auf der eine gute Fee lebte. Sie schilderte ihr das Problem. Die gute Fee streichelte sanft über das Fell von Prinzessin Himmelblau. "Ich kann dir helfen, aber der Zauber wäre endgültig gebrochen. Sprechen wirst du niemals mehr können. Willst du das wirklich?" Prinzessin Himmelblau zögerte nicht eine Sekunde. "Ja, ich will es so. Er hat einst mein Leben verschont und mich vor dem Wolf gerettet. Was ist schon meine Stimme gegen sein Herzensglück?" 

So tat die Fee, wie von Prinzessin Himmelblau gewünscht. Nur ein paar Minuten später stand das Schaf geschoren vor ihr. Das wunderschöne lockige Fell lag in einem Korb und glänzte in der Sonne. Himmelblau. Prinzessin Himmelblau dankte es ihr mit einem fröhlichen "Mäh, mäh", schnappte sich den Korb und machte sich auf den Rückweg. Ihr Herz hüpfte vor lauter Freude im Takt mit jedem Hopser.

Gisbert stand am Tor des Schlosses, wie jeden Abend und blickte sehnsüchtig durch die Gitterstäbe, als etwas an sein Bein stieß. Ohne Hinzusehen wusste er, wer ihn da störte. " Prinzessin Himmelblau, lass mir meine Ruhe", sagte er ärgerlich.

"Mäh, mäh, mäh", erklang es neben ihm. Irritiert sah Gisbert hinunter. Sein Herz blieb fast stehen, als er erkannte, was sich in dem Körbchen in Prinzessin Himmelblaus Maul befand. Fest umarmte er das Tier. Tränen der Rührung flossen, als er die Liebe und Zuneigung in den Augen von Prinzessin Himmelblau erkannte. "Danke, ich danke dir. Von ganzem Herzen. Und ich bete, dass dein Geschenk nicht umsonst gewesen ist."

Noch in der Nacht ließ er das Fell zu Wolle spinnen. Am nächsten Morgen suchte er einen Weber auf, der ihm daraus ein Tuch webte. Mit der Mittagsonne verlangte er Eintritt zum Schloss des Königs. Dort im Park überreichte er der Königstochter das Tuch, die gesenkten Kopfes, die Augen verschleiert auf einer Bank saß. Fürsorglich legte er es über ihre Schultern. Die Sonnenstrahlen verfingen sich in dem Tuch und ließen es aufleuchten. Himmelblau. Vorsichtig hob Gisbert den Schleier an. Und dann sah er sie. Ihre Augen. Sie waren glänzend und von einem ganz besonderen Himmelblau. Einem Blau, wie der Sommerhimmel über ihnen. Strahlend sank die Königstochter ihrem Retter in  die Arme. "Du bist mein Held und ab heute werde ich dich für immer lieben."

Bevor Hochzeit gefeiert wurde, erzählte Gisbert der Königstochter von Prinzessin Himmelblau und dem Opfer, welches diese gebracht hat. Aus Dankbarkeit bekam Prinzessin Himmelblau den schönsten Stall im Schloss und jeden Tag die besten Gräser. So manch ein Gast auf der Feier wunderte sich über das Schaf an der Seite der Brautleute, dass immer wieder in ein freudiges "Mäh, mäh" ausbrach. Noch viele, viele Jahre später erzählte man sich die tollsten Geschichten darüber. Doch die Wahrheit erfuhr nie eine Menschenseele.


Text: Perdita Klimeck

Illustration: Sarah Engelhardt


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