DER DOMOWOI

Was ich euch berichte, trug sich vor langer, langer Zeit schon zu. Wann und wo kann niemand mehr genau sagen. Meine Großmutter hat es mir erzählt und die hat es von ihrer Großmutter. Eines ist ganz gewiss, alles hat sich so zugetragen, wie ich es euch jetzt erzähle.

Es war die Nacht vor dem ersten November. Der Winter hatte schon längst sein Werk angefangen und die Welt lag erstarrt unter Schnee und Eis. Es war bitterkalt an diesem Abend und die Menschen, die in der kleinem Stadt lebten wo sich diese Geschichte abspielte, saßen in ihren Stuben und wärmten sich am Küchenfeuer, so gut es eben ging. Ab und an glomm Kerzenlicht durch die wenigen Fenster. Wer nach Einbruch der Dunkelheit noch in Richtung Stadt zog, konnte von einem nahen Hügel die huschenden Lichter erkennen und sich daran richten. Ein Haus lag allerdings in völligem Dunkel.

Oleg Achmatow, der sich mit seinem kleinen Karren, auf dem sich sein ganzes Hab und Gut befand, durch den tiefen Schnee bis zum Stadtrand gekämpft hatte, kam das gerade Recht.  Ein dunkles Haus um diese Jahreszeit bedeutete, keine Bewohner. Dort konnte er ungestört die Nacht verbringen. Niemand würde ihm Fragen stellen können. Fragen nach seiner Herkunft, seinem Beruf und Fragen wohin seine Reise wohl gehen würde.

Oleg kicherte bei dem Gedanken an seinen Beruf. Solange er Denken konnte war er ein Dieb. Allerdings keiner von der üblen Sorte. Nein, er hatte sich bis jetzt immer nur so viel genommen, dass es sein Überleben sicherte. Hier mal ein paar Eier, da mal ein Huhn, Brot und wenn es ihn fror, stahl er auch schon mal einen warmen Mantel oder Stiefel.

Das aber nur, wenn er sich versichert hatte, dass der Bestohlene noch Ersatz besaß. Die Kälte Russlands konnte tödlich sein. Schon früh ein Waisenkind, das keiner wollte, war ihm nichts anderes übrig geblieben.

Vorsichtig schlich Oleg um das halb zerfallene Haus herum. In der Tat, es war verlassen. Eine Tür gab es nicht, der Eingang war lediglich mit ein paar Brettern zugestellt. Er schob sie beiseite und zog seinen Karren ins Innere. Danach richtete er die Bretter wieder her. So schnell würde man von außen nicht erkennen, dass im Haus ein ungebetener Gast nächtigt. Mittlerweile hatte sich der Mond gegen die schweren Wolken durchgesetzt. Durch die Ritzen der Holzwände fiel spärliches Licht. Nachdem sich Oleg an die nächtliche Umgebung gewöhnt hatte, fand er schnell was er suchte. Den alten Küchenofen, das einzige Stück noch in der Stube, konnte er zwar nicht befeuern, aber immerhin würde die steinerne Bank davor ihm als Nachtlager dienen können.

Er zerrte eine Decke aus seinem Karren, fand auch noch einen Rest Brot und ließ sich zufrieden seufzend nieder. Alsbald verfiel er in einen tiefen Schlummer. Er träumte von wärmenden Küchenöfen und den liebevollen Armen eines Weibes, Kinderlachen und dem fröhlichen Wiehern einiger Pferde aus dem Stall. Blumen tanzten vor seinen Augen und in den Duft mischte sich würzige Landluft. Hühner gackerten und Schweine grunzten mit ihnen um die Wette.

Oleg  war glücklich in diesem Traum. Der Traum von einem Leben, wie er es sich immer gewünscht hatte. Nur etwas konnte er nicht einordnen. Jemand zerrte an seinen Füßen und jammerte dabei schauerlich.

Oleg erstarrte. Das war kein Traum, etwas rupfte und zog tatsächlich an seinen Füßen. Mittlerweile hellwach, öffnete er vorsichtig die Augen und richtete sich ein wenig auf. Es dauerte eine Weile, bis er im Dämmerlich eine kleine Gestalt ausmachen konnte, die unaufhörlich greinte und an seinen Stiefeln zog. Vor Schreck zog er die Beine an. Das Jammern verstummte und die Gestalt verschwand in einer dunklen Ecke des Raumes. Oleg lauschte in die Nacht und gerade als er vermeinte, dass alles doch zu seinem Traum gehört,  fing das Gewimmere wieder an. Eher neugierig als ängstlich, erhob er sich und ging langsam in die Richtung, aus der die erbärmliche Stimme kam.

Mitten zwischen allerlei vergessenem und zerbrochenem Hausrat hockte ein kleines Männchen. Durch eine breite Ritze fiel das Mondlicht auf ein Gewirr von verfilztem, grauen Haar. Ein Gesicht war darunter kaum zu erkennen. Die Kleidung war zerlumpt und die Schuhe wiesen Löcher auf. Alles in allem war das Männchen nicht mal einen halben Meter groß. Winzige faltige Hände klammerten sich an einen alten Kupferkessel, wie er zu dieser Zeit über vielen Herdfeuern hing. Immer noch greinte das Kerlchen und dicke Tränen kullerten in den Kessel.

Voller Mitleid beugte sich Oleg herab. " Was heulst du so, kleines Männlein? Du wirst noch das ganze Dorf aufwecken und dann wird es uns schlecht ergehen."

Der Wicht hörte zwar abrupt mit dem Geheule auf, fing aber nach einer kleinen Auszeit mit seiner Jammerei wieder an. Diesmal etwas deutlicher, sodass Oleg einige Wortfetzen verstehen konnte.

"Huhuhu ... allein ... alle fort … huhuhu ..." Der Rest ging im Geheule unter. Aus Angst, dass jemand aufmerksam werden könnte, griff Oleg sich das Männchen und schüttelte es. Der Kessel fiel dabei zu Boden.

"Wirst du wohl auf der Stelle ruhig sein, du hässlicher kleiner Mann!" Das Männlein verstummte und versuchte sich verzweifelt aus den Händen Olegs zu befreien. Natürlich gelang es ihm nicht. So wurde er langsam ruhig und nach ein paar Minuten hob er seinen Kopf. Zwei dunkle Augen, die wie kleine Knöpfe in einem völlig verrunzeltem Gesicht eingebettet waren, schauten Oleg an.

"Lass mich runter, Oleg Achmatow, dann erzähle ich dir von meinem Kummer."

"Du kennst meinen Namen?" Oleg war mehr als verwundert und folgsam setzte er den kleinen Wicht auf den Boden neben sich. Sofort griff sich dieser wieder den Kupferkessel.

"Natürlich kenne ich deinen Namen, ich kenne alle Namen dieser Welt."

"Wie kann das möglich sein? Niemand kann alle Namen kennen. Wer bist du, der du das behauptest?“ Ein wenig belustigt sah Oleg den grauen Wicht an. Mittlerweile hatte er sich neben den Zwerg gesetzt, sodass sie sich in Augenhöhe anschauen konnten.

"Ich bin ein Domowoi, viele hunderte von Jahre alt und bin schon durch die ganzen Weiten Russlands gezogen. Immer wenn die Familien umzogen, wurde ich mitgenommen. Viele Generationen habe ich schon aufwachsen sehen. Und immer hat man mir Achtung und Respekt entgegengebracht. Das habe ich stets gedankt, indem ich Haus und Vieh vor Feuer und Sturm geschützt habe. Und nun das!" Der letzte Satz ging in kleinen Schluchzern fast unter. Der Gnom beruhigte sich erst wieder, nachdem Oleg ihm sanft über die wirren Haare gestrichen hatte.

"Alles hat sich geändert", fuhr er fort. "Die Menschen halten sich immer weniger an Traditionen und verlieren ihren Glauben an Geisterwesen. Die letzte Familie ist fortgezogen und man hat mich einfach hiergelassen. Nun weiß ich nicht wohin, und wozu ich noch von Nutzen bin. Nur der Kessel hier ist mir geblieben, in dem ich lebe. Am meisten trifft es mich, dass mich das Töchterchen des Hauses, die süße Jekaterina vergessen hat." Mit jedem Wort klang seine Stimme trauriger.

Natürlich wusste Oleg was ein Domowoi ist. Von diesen Hausgeistern kursierten die seltsamsten Geschichten, aber gesehen hatte er noch nie so einen Wicht. Was auch kein Wunder war, schließlich hatte er in seinem Leben noch kein Haus sein Eigen genannt, geschweige denn in einer festen Wohnung gelebt.

"Es ist nun mal der Lauf der Welt, dass sich alles ändert. Damit musst du dich abfinden!" Oleg wusste, dass dieser Satz sicherlich kein Trost sein würde, aber mehr als diese Worte konnte er nicht finden. Der Domowoi reagierte auch dementsprechend.

"Ich will nicht, nein, ich will nicht! Nein, nein, nein", zeterte er in einem fort und sprang wie ein Wilder vor Oleg herum. " Du musst mir helfen, jetzt, sofort!"

Oleg lachte, weil es einfach komisch aussah, wie das kleine Männchen sich drehte und wendete und dabei ständig Grimassen zog.

"Na, na, beruhige dich mal! Was könnte ich, Oleg Achmatow, ein kleiner Dieb, denn schon für dich tun?"

Nach dieser Frage wurde der Domowoi augenblicklich ruhig. Kurz senkte er den Kopf, als müsste er überlegen. "Nun, da gäbe es schon etwas, und es ist ganz einfach", flüsterte er, während sein Kopf sich langsam wieder hob. Er kletterte nun auf den Schoß von Oleg, legte seine kleinen Hände auf Olegs Brust und sah ihn an.  Oleg blickte in die Augen des Domowoi, konnte aber dort keine Tücke erkennen. Für einen Augenblick herrschte Stille, die der Domowoi schließlich durchbrach. "Bleib hier! Dann hab ich einen neuen Herrn." Seine Stimme war klar und fest.

Oleg lachte laut auf. "Hierbleiben? Etwa bei dir, einem kleinen hässlichen Zwerg? Warum sollte ich? Nein, nein, wenn ich irgendwo bleibe, muss der Ort so sein wie in meinen Träumen."

Oleg stand nun auf und wanderte durch den Raum. Er redete und redete in einem fort. Beschrieb dem Dovowoi in allen Einzelheiten das Leben, was er sich immer in seinen Träumen für sich vorstellt. " So, nun weißt du", beendete er seine Erzählung, "warum dieser Ort und ein Leben mit einem Domowoi für mich nicht in Frage kommt. Und außerdem habe ich weder Arbeit noch Geld. Niemand wird mich hier wohnen lassen."

Zuerst schien der Domowoi geknickt. Dann begann er zu betteln. Zuerst leise und greinend, dann immer lauter und lauter. Er sprang an Oleg hoch und klammerte sich an dessen Knie fest.

Nach einer Weile verlor Oleg die Geduld. Mit einem Ruck schleuderte er den Domowoi von sich fort. Wortlos schnappte er sich seine Decke, verstaute sie in seinem Karren und verließ das Haus ebenso, wie er hereingekommen war. Die nächtliche Kälte nahm ihm den Atem. Doch tapfer schritt er voran, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Noch lange hörte er das Greinen des Domowoi, bis der eiskalte Wind und das Schneegestöber auch den letzten Schluchzer verschluckten. Oleg fror entsetzlich. Für heute Nacht würde er nun keinen Unterschlupf mehr finden, das wusste er. So ging er weiter. Doch mit jedem Meter, den er sich in die dunkle und kalte Nacht hinaus bewegte, stieg auch sein schlechtes Gewissen.

Zuerst versuchte er es wegzudrängen, aber irgendwann mahnte es ihn dermaßen laut, dass er genervt stehen blieb. " 'Was soll´s", grummelte er vor sich hin. "Mit jedem Schritt mehr in diese Kälte sterben auch meine Träume, denn ich werde sicherlich erfrieren. Besser also, ich kehre um und richte mir ein Zuhause ein, mit dem Domowoi. Im Grunde ist er doch ein niedlicher kleiner Kerl. Besser eine Heimat bei einem Domowoi, als ewig einem Traum hinterherzujagen. Und wenigstens ist dann einer von uns glücklich. Auch wenn ich kein Geld habe, bin ich doch fleißig. Wer weiß, vielleicht gibt mir jemand Arbeit."

Von frischem Mut angefüllt, drehte Oleg um. Je näher er dem Haus wieder kam, desto mehr zog Frohsinn in sein Herz. Angekommen, fand er den Domowoi wimmernd auf der Ofenmauer. "Bin zurück", murmelte er. "War einfach zu kalt draußen." So ganz zugeben, dass der Domowoi, entgegen all seiner Träume, sein Herz berührt hatte, wollte er dann doch nicht.

Dieser spürte aber die Herzlichkeit und Wärme hinter den Worten Olegs. Ohne viel Aufhebens, bat er Oleg neben sich auf die Bank. Oleg nahm wieder seine Decke vom Karren, wickelte sich und den Domowoi darin ein, und ohne ein weiteres Wort zu verlieren schliefen sie ein.

Am nächsten Tag bat ihn der Domowoi, einmal in seinen Kupferkessel zu schauen. Oleg tat wie ihm geheißen. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er die vielen Goldstücke sah, mit denen der Topf bis zur Hälfte gefüllt war. "Das ist mein Dank für dein gutes Herz", sagte der Domowoi und kniff ihn dabei ins Bein.  

So kam es, dass Oleg im Ort und im Haus bleiben konnte. Er fand eine liebe Frau und wurde dank seiner immerwährenden Hilfsbereitschaft ein geachteter Mann. Der Kupferkessel bekam einen Ehrenplatz, direkt neben dem Kamin. Bevor er sich nachts zur Ruhe legte, setzte er sich dort auf die Bank und hielt mit dem Domowoi ein kleines Schwätzchen.

Dieser hütete das Haus und seine Bewohner wie einen Schatz, so wie es sein Leben verlangte. Er freute sich, wenn der Küchenofen alle wärmte, Kinderlachen durch das Haus scholl, eine liebe Frau seinen Herrn umarmte, Blumen im Sommer ihren Duft verströmten, die Hühner gackerten, die Schweine grunzten und aus dem Stall das fröhliche Wiehern der Pferde klang.

Und nun denkt daran, wenn es mal wieder hinter dem Ofen knistert und im Stall knackt. Es ist nur ein Domowoi, der uns beschützen will.

 

 

Text: Perdita Klimeck

Illustration: Sarah Engelhardt



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