Der Kleine engel Leonie

Weitab von der Erde, hoch über den Wolken, am Ende der großen Sternenstraße, war er zuhause. Der kleine Engel Leonie. Jeden Morgen ging er brav mit all den anderen kleinen Engeln in die Engelschule. Das war wichtig, denn dort lernte der kleine Engel Leonie alles was Engel wissen müssen, damit sie später den Menschen und Tieren auf der Erde beistehen können. Deshalb passte der kleine Engel Leonie in der Schule immer gut auf und half oft den anderen Engelkindern bei den Hausaufgaben. Schließlich wollte er später ein guter Engel werden. Wann dieses  Später aber sein würde, wusste er nicht so genau. Eines war sicher, um auf die Erde fliegen zu können, brauchten die kleinen Engel Flügel. Große Flügel.

Jeden Abend, bevor der kleine Engel Leonie schlafen ging, stellte er sich vor einen Spiegel. Doch so sehr er sich auch drehte und streckte, seine Flügel blieben stets so, wie sie waren, klein. Winzig klein. All die anderen Engel in seiner Klasse hatten bereits viel größere Flügel. Anfangs machte ihm das nichts aus. "Meine Zeit wird schon kommen", dachte er und lächelte dabei.

So ging es Monat für Monat und Jahr für Jahr. Nach und nach konnten seine Engelfreunde alle die Schule verlassen. Stolz präsentierten sie ihre großen Flügel, bevor sie sich auf den weiten Weg zur Erde machten, wo große und geheimnisvolle Aufgaben auf sie warteten. Neue Engelkinder kamen und gingen wieder. Zurück blieb der kleine Engel Leonie. Und wurde immer trauriger. Manchmal, wenn die Wolken besonders dick und schwer am Himmel hingen, kein Mond zu sehen war und auch die Sterne ihr Licht gelöscht hatten, verkroch sich der kleine Engel Leonie im hintersten Winkel des Himmels, mitten in einer besonders dunklen Wolke, und weinte. Dicke Tränen kullerten dann über seine Wangen und tropften durch die Wolke.

So auch an einem Tag weit im Dezember. Wieder hatten zwei Engel die Schule verlassen, weil ihre Flügel die richtige Größe erreicht hatten. Traurig hatte der kleine Engel Leonie ihnen nachgeblickt, als sie mit weit ausgebreiteten Flügeln ihren Weg Richtung Erde antraten.  Er wollte nur noch eines, alleine sein und weinen. Doch wie es im Dezember oftmals ist, konnte er keine dunkle Wolke finden, in der er sich verkriechen konnte. Alle Wolken hingen dick und weiß am Himmel. Angefüllt mit Millionen von Schneeflocken, die nur darauf warteten ihren Flockentanz hinab zur Erde beginnen zu können. Aus jeder Wolke, die der kleine Engel Leonie umkreiste, drang ein Wispern und Knistern und unaufhörliches Gekicher.  Immer weiter flog er durch das weiße Wolkenmeer.  Irgendwo musste doch ein Plätzchen zu finden sein, wo er ungestört weinen konnte. Mittlerweile konnte er die Tränen kaum noch zurückhalten. Langsam begannen sich seine Augen damit zu füllen. Die winzigen Flügel zitterten bereits vor Müdigkeit.  Lange würde er nicht mehr weiterfliegen können. Durch den Tränenschleier konnte er zudem kaum noch etwas sehen. Nur Rosa.

Rosa? Der kleine Engel Leonie zwinkerte mit den Augen. Rosa! Es blieb dabei. Auch als er sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte. Die Wolken um ihn herum leuchteten in alles Rosatönen. Von hauchzart bis hin zu einem kräftigen rosenrot. Verdutzt ließ sich der kleine Engel Leonie auf eine kleine Wolke fallen, die wie Zuckerwatte aussah. Und auch so duftete. Er hob das Näschen und schnupperte. Die ganze Luft war angefüllt mit dem Duft nach Zimt und Honig und Nüssen. Einfach himmlisch. Dem kleinen Engel Leonie ging das Herz ganz weit auf und die Traurigkeit flog davon.  Er richtete seine Flügel, pustete und prustete ein wenig, damit sich die feinen Zuckerwattewolkenfetzen etwas lichten, und sah sich um. Das muss sie sein, die Zuckerbäckerei vom Christkind, dachte er. Gehört hatte er davon schon so einiges. Nur gesehen hatte er es nie. Bis heute. Jedes Jahr im Winter, wenn die Weihnachtszeit naht, fängt das Christkind an zu backen. Feinste Plätzchen, Pralinen, Zuckerstangen und noch vieles mehr. Das rosarote Licht der vielen Backöfen können dann an manchen Tagen sogar die Menschen auf der Erde mit bloßem Auge ausmachen. So haben es jedenfalls immer die alten Engel erzählt.  

Der kleine Engel Leonie erschrak, als etwas neben ihm auf die Wolke plumpste. Zuerst konnte er kaum etwas erkennen, weil dieses Ding fast ganz in der rosa Wolkenwatte eingesunken war. Lediglich blondes lockiges Haar war zu sehen. Neugierig beugte sich der kleine Engel Leonie vor und schaute gebannt zu, wie sich das seltsame Ding langsam aus der Wolkenmasse arbeitete. Bei jeder Bewegung erklangen kleine Glöckchen. Endlich stand das Wesen auf den Beinen. Der kleine Engel Leonie konnte sich gar nicht an ihm sattsehen, so schön sah es aus. Es trug ein weißes Kleidchen, über und über mit silbernen Sternen bestickt. Im Haar glänzte eine goldene Spange.

"Was ist, kleiner Engel Leonie, hat es dir die Sprache verschlagen?" Ganz hell klang die Stimme.

"Woher weißt du meinen Namen?" Der kleine Engel Leonie war nun erst recht verwirrt.

"Das Christkind weiß die Namen aller Engel."

"Du, du … du bist das Christkind?" Der kleine Engel Leonie musste sich setzen. Das Christkind. Hier bei ihm. Höchstpersönlich. Das konnte nur ein Traum sein. Er rieb sich die Augen.

"Natürlich bin ich das Christkind. Und ich habe schon auf dich gewartet."

"Auf mich?" Das kann doch nicht sein, schoss es dem kleinen Engel Leonie durch den Kopf. Ich bin doch nur ein Engel mit winzigen Flügeln. Zu nichts zu gebrauchen.

Das Christkind setzte sich neben ihn und legte eine Hand auf seinen rechten Flügel. "Ich kann sehen, was du denkst. Sei nicht mehr traurig. Deine Bestimmung ist eine andere, wie die der Engel mit den großen Flügeln. Du hast immer gesagt, dass deine Zeit kommen wird. Und nun ist es soweit."

Mit großen Augen schaute der kleine Engel Leonie das Christkind an. "Meine Zeit? Wie meinst du das?"

Das Christkind lächelte fein. "Weißt du, ich brauche Jahr für Hilfe. Nicht nur in der Weihnachtsbäckerei. Nein, ich brauche Hilfe, um am Heiligabend Frieden und Liebe auf die Erde zu bringen. Damit die Menschen nicht mehr zweifeln und gestärkt sind für das neue Jahr. Immer mehr Menschen leben in Streit. Hass und Neid vergiften die Welt. Das schaffe ich schon lange nicht mehr alleine."

Das Christkind stand auf und langte in eine Tasche an seinem Kleid. Eine rote Schleife, mit einem goldenen Glöckchen daran, zog es daraus hervor und band sie dem kleinen Engel Leonie um den Hals. "Weißt du, die großen Engel, mit ihren breiten Flügeln, die haben anderes zu tun. Und sie sind viel zu groß für meine Mission. Ich brauche kleine Engel, mit kleinen Flügeln, die überall durch jedes noch so kleine Fenster passen. Nur so kann ich allen Menschen das bringen, was sie am Nötigsten brauchen ..."

"Frieden und Liebe", vollendete der kleine Engel Leonie den Satz.

"So ist es, kleiner Engel Leonie", antwortete das Christkind. "Ohne uns, würde die Welt immer dunkler werden. Und nun komm, ich bringe dich zu den anderen kleinen Engeln. Sie freuen sich schon auf deine Unterstützung."

 

So kam es, dass der kleine Engel Leonie endlich, nach so langen Jahren des Wartens, seine Bestimmung fand. Als Helfer des Christkindes. Nie mehr war er seit jenem Tag traurig.

Und wenn du in der Heiligen Nacht ein kleines Glöckchen hörst, dann könnte es durchaus sein, dass es der kleine Engel Leonie ist, der die Frieden und Liebe bringt.  

 

Text: Perdita Klimeck

Bildmaterial: pixabay


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